Stephen Kings “Das Mädchen” geht uns in diesen Wäldern nicht aus dem Kopf. Ein paar Schritte weg vom Trail, und schon sind wir von Dickicht zugemauert.
Ein paar Baumfrösche wetzen erschrocken über die Laubdecke, ansonsten senkt sich Totenstille hernieder. Unheimlich. Doch während der Meister des Horrors die kleine Trisha nach ihrer Pinkelpause nicht mehr auf den Trail zurückfinden und die nächsten Tage die Wildnis irren lässt, beschränkt sich unser Gefühl der Verlorenheit auf ein flüchtiges Spekulieren. Was würden wir an Trishas Stelle tun? Wären wir für das Überleben in der Wildnis gewappnet? Würden wir kühlen Kopf bewahren? Oder in Panik geraten? Ein Streifenhörnchen zischt in eine Felsspalte. Durch das Blätterdach dringen dünne Lichtspeere auf den Trail. Der arbeitet sich, für unerfahrene Augen kaum erkennbar, über scharf hervorragende Baumwurzeln bergan. Nein, wir wären nicht gewappnet. Wir werden ja schon unruhig, wenn wir zehn Minuten lang keine rote Markierung mehr gesehen haben ..
Appalachian Trail: Come meet your inner Schweinehund
Begegnungen mit sich selbst sind die Spezialität des Appalachian Trail. Dafür ist er lang genug. Die amerikanische Wanderweg-Legende folgt den Appalachen vom Springer Mountain in Georgia bis zum Mt. Kathadin in Maine. Das ist fast so weit wie von Oslo nach Ankara, nämlich 3500 Kilometer. Zahllose Bücher und Artikel wurden über ihn geschrieben, mehrere Millionen Amerikaner nehmen ihn jedes Jahr unter die Stiefel. Und gut 120 Wanderer im Jahr machen den Trail von Anfang bis Ende und nähen sich nachher den Ehrentitel “Thru-Hiker” auf die Joppe. Der Abschnitt durch die White Mountains in New Hampshire und Maine zählt zu den schönsten – und härtesten – des Trails. Das “Dach Neuenglands” genannte Gebirge ist nicht mal 2000 m hoch, doch dafür umso unwegsamer. Die letzten Täler und Pässe, hier “notches” genannt, wurden erst Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckt. Menschen – keiner weiß das besser als Stephen King, der drüben in Maine wohnt – gehen noch immer hier verloren. Und der Mt. Washington, mit 1917 m der höchste Gipfel, gehört wegen seiner berüchtigten Wetterstürze zu den gefährlichsten der Welt. Die Baumgrenze liegt bei lächerlichen 1300 Metern.
Mount Washington: Die größte Gefahr ist, dass man ihn unterschätzt
Wer den Appalachian Trail in den White Mountains in Angriff nimmt, muss also fit sein. Und stur wie ein Ochse. Denn schon am ersten Abend auf dem Trail steckt jeder Kilometer tief genug in den Knochen, um sich die Warum-Frage zu stellen. Allein die ersten 12 Kilometer vom Besucherzentrum in Pinkham Notch zur Madison-Hütte haben es in sich. Auf halber Strecke biegt der über die Ostflanke des Mt. Washington verlaufende Trail bergwärts und strebt so gemein wie schnurgerade die bis zu 70 Prozent steile Osgoode Ridge hinauf. Laub- geht in Nadelwald über, das bekommen wir noch mit, und jener dann in Krummholz, und am Ende dieses wirklich fiesen Stairmasters balancieren wir – um ganz ehrlich zu sein, ist es eher ein unansehnliches Krabbeln auf allen vieren – über einen düsteren, subalpin bekleckerten Geröllhaufen, der als Gipfel des Mt. Madison (1609m) firmiert. Der Blick, und das ist keine leere Phrase, lohnt jedoch die siebenstündige Strapaze: Die steinige, schaurig-schöne Gipfellandschaft des von Extrem-Wetter modellierten Mt. Washington liegt zum Greifen nahe. Die Madison-Hütte ruht auf einem Sattel zu meinen Füßen. Drinnen brennt schon Licht, da will ich jetzt bitteschön hin. Noch 300 Höhenmeter. Abwärts dieses Mal, über ein Knie und Schienbeine strapazierendes Geröllfeld. Nie schmeckte Bohnensuppe besser.
Nicht ohne mein Kopfkissen: Hütten-Wandern auf dem Appalachian Trail
Das Hüttensystem des Appalachian Mountain Club (AMC) ist das einzige seiner Art in Nordamerika. Es umfasst acht bewirtschaftete Hütten und weitere unbewirtschaftete Unterkünfte und “Shelter” genannte Unterstände. Auch die rustikale Joe Dodge Lodge im Pinkham Notch Visitor Center und das neuere, ebenfalls mit gemütlichen Zimmer versehene Highland Center at Crawford Notch gehören dazu. Die Hütten liegen einen Tagesmarsch auseinander am Appalachian Trail und bieten Abendessen und Frühstück und Schlafen in vierstöckigen Etagenbetten. Decken und Kopfkissen werden gestellt, Duschen gibt es nicht. Abends sitzen erschöpfte Wochenendhiker neben halb verwilderten Waldmenschen zu Tisch. Je verfilzter deren Haarpracht, desto größer die Wahrscheinlichkeit, einen “Thru-Hiker” vor sich zu haben. Bis zu sechs Monate brauchen diese Hardcore-Wanderer von Georgia bis nach Maine. Unterwegs legen sie ihre Namen ab und nehmen fantasievolle Kriegsnamen an, die “Trailnames”. Sie schlafen unterm Sternenhimmel und ernähren sich von Trockenfutter, dass sie zuvor entlang des Trails deponiert haben. Warum das alles? Die Antwort weiß nur der Trail.
White Mountains: Schön, aber auch ganz schön gefährlich
Doch diese Wanderung ist auch mit Kojen-Reservierung hart genug. Mein nächstes Ziel ist die Lake of the Clouds-Hütte. Dazwischen liegen elf Kilometer, über die zerklüfteten Mt. Adams (1749 m) und Mt. Jefferson (1714m), immer über der Baumgrenze, mit spektakulären Aussichten über die kahlen Gipfel der Presidential Range. Hin und wieder zweigen so genannte “Escape Routes” talwärts ab. Die hat der AMC angelegt, nachdem Hiker von Kälteeinbrüchen überrascht wurden und nur wenige Hundert Meter von der Lake of the Clouds-Hütte umkamen. Die mit 90 Betten größte AMC-Hütte sitzt auf einem Sattel auf der anderen Seite des Mt. Washington – einziges Zeichen menschlicher Anwesenheit in einer hochalpinen Kulisse aus Stein und Geröll.
Hochgefühl und an die Grenzen gehen
Das Hochgefühl dieses Tages hält auch am nächsten Tag an. Man wächst mit den Anforderungen, der Muskelkater des ersten Abends ist Geschichte. Die acht Kilometer oberhalb der Baumgrenze zur Mizpah-Hütte sind ein Genuss. Am Boden der Crawford Notch liegt weiß und groß das Mt. Washington Hotel vor Anker, das Letzte der alten Grand Hotels der White Mountains, in der Zeit vor den Anti-Trust-Gesetzen erholte sich hier die Ostküsten-Elite vom Geldscheffeln. Zuletzt jedoch geht es steil, fast senkrecht, zurück in den Wald. Die Gelenke knacken, zum ersten Mal. Die Wurzeln alter Nadelbäume ragen wie Gerippe aus dem Trail hervor. Die Rucksäcke verfangen sich in den Ästen, auf den letzten müden Metern ein rechtes Ärgernis. Dann taucht, so plötzlich wie ein Haubentaucher vorm Ruderboot, die Mizpah-Hütte auf. Gerade ist eine Schulkasse vom Tal heraufgekommen. Die Kids liegen mit weißen Gesichtern auf dem Gras vor Hütte, japsend wie Fische auf dem Trockenen.
Thru-Hiker: Sinnsucher in Gummistiefeln
Anderntags treffen wir die ersten echten “Thru Hiker”. Sie sehen wie halb domestizierte Yetis aus. Einer hat seine Hose gegen ein um die Hüften gewundenes Hemd vertauscht. Die Füße stecken in Gummistiefeln, der struppige Hund, sagt er, läuft ihm schon seit Virginia nach. Der Mann hat mit Software sein Glück gemacht, nun will er herausfinden, ob es das schon war für ihn. Unser letztes Etappenziel ist die 16 Kilometer weiter und tausend Meter tiefer liegende Zealand Falls-Hütte. Den Highway 302 auf halbem Weg will man inzwischen nicht wirklich sehen, man überquert schweigend den Asphalt und verschwindet irgendwie erleichtert wieder im Wald. Beim Kraxeln auf den steilen Avalon und A-Z Trails grübeln wir darüber nach, was das für Leute sind, diese “Thru-Hiker”. Psychologen haben sie studiert, natürlich. Ein gewisser Dr. O.W. Lacy kam zu der banalen Erkenntnis, zwei Drittel seien introvertierte Einzelgänger, die das Träumen noch nicht verlernt hätten. Die Zealand Falls-Hütte liegt auf einer Klippe hoch über dem gleichnamigen Tal, in einer von steilen Wänden umstellten Wildnis aus mannshohem Gras und Sümpfen. Ein paar Schritte entfernt stürzt sich ein Fluss in die Tiefe. Über flache Platten gelangen wir zu einem natürlichen Pool und lassen uns in das klare Wasser gleiten. Der Alltag ist so weit weg. Am liebsten würden wir immer weiter gehen. Ein anderes Mal. Bestimmt.
Weitere Informationen gibt es online unter:
Appalachian Mountain Club (AMC): www.outdoors.org
Discover New England: www.neuenglandusa.de
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