Havasu Canyon (Arizona): Jenseits von Amerika

Eine Bullenhitze ist das. Es wird einem schwindelig, so heiß ist es. Nach ein paar Kilometern glaubt man, was sie einem hier erzählen. Dass Menschen nur 300 Meter vom Parkplatz entfernt verdurstet sind. Dass in einem der Seiten-Canyons eine Familie von einer Sturzflut – am Himmel zeigt sich kein Wölkchen, aber das heißt nicht viel – überrascht wurde und die Körper von dem durch die Schlucht tobenden H2O derart geschunden wurden, dass sie nachher quasi aus den Felsspalten gekratzt werden mussten. Und dass man sich beim Klettern und Kraxeln in dieser Felsenwüste in Situationen manövrieren kann, aus denen man nicht mehr herausfindet und vor Angst, Scham und Einsamkeit wahnsinnig wird. Alles schon da gewesen. Diese Landschaft ist gnadenlos und zugleich bewusstseinserweiternd. Je mehr man trinkt, desto schneller leert sich die Flasche – eine banale Erkenntnis, deren brutale Konsequenz einem plötzlich schmerzhaft bewusst wird.

Havasu Canyon: Mooney Falls

Die Erlösung kommt, als man schon nicht mehr dran glaubt. Der von Geröll übersäte graue Canyonboden wird grün. Balsampappeln, Yuccas, Weiden, dunkelrot blühende Kakteen. Die brutzelnden Nerven beruhigen sich. Dann überquert der Trail eine türkisfarbene Fata Morgana, den Havasu Creek. Eine einfache Holzbrücke führt hinüber, aber die ist nicht so verlockend wie die Furt daneben. Das Wasser, kalt und hüfttief, senkt die Körpertemperatur um tausend Grad. Subjektiv gefühlt. Lebensgeister kehren zurück, geschwollene Zehen schrumpfen auf Normalgröße. Wir sind im Paradies. Es gibt sogar eine Eva. Sie hat langes, schwarzes Haar, bronzefarbene Haut und sitzt auf einem bildschönen Falben. Es sei nicht mehr weit, lächelt sie die planschenden Bleichgesichter an. Dann tippt sie ihrem Pferd die Fersen leicht in die Flanken und entmaterialisiert in Sekundenbruchteilen im harten Buschwerk. Ihr Dorf kommt eine halbe Stunde später in Sicht, nach einem Marsch durch ein grünes Gewölbe aus Cottonwood-Bäumen. Vor jedem Haus parken, statt Autos, Pferde und Maultiere, an Zäunen festgemacht, in den Gärten dahinter grasen noch mehr. Die einzige Straße des Dorfes ähnelt der Sprunggrube im Sportstadion zu Hause. Verfilzte Köter in allen Gelbtönen schlafen dort, wo sie, von der Hitze  erschöpft, kollabiert sind: auf der Schwelle zum kombinierten Postamt/Kaufladen oder zum Büro von Havasupai Tourist Enterprise, wo wir unseren Zeltplatz reservieren und alle praktischen Fragen beantwortet bekommen, auf den Tischen des Cafés oder vor der Schule, einem schönen, flachen Steinbau. Schwarzhaarige Kinder mit Laufnasen amüsieren sich über die staubgepuderten Ankömmlinge. Willkommen in einem anderen Amerika.

Das Dorf heißt Supai. Es liegt auf dem Boden des Havasu Canyon, einem Seitenarm des Grand Canyon in Nord-Arizona, und ist die Heimat der 770 Köpfe zählenden Havasupai-Indianer. Havasupai bedeutet “Hüter des blaugrünen Wassers”. “Wir leben seit 700 Jahren in diesem Canyon”, sagt Billy Two Spirits abends am Lagerfeuer. Er stochert in der Holzkohle herum und malt mit dem glühenden Stock Lichtkreise in den Nachthimmel. Über den 400 Meter hohen Felswänden funkeln die Sterne.  Wir haben Billy im winzigen Tourist Office kennengelernt. Dort teilt der junge Havasupai ankommenden Bleichgesichtern ihre Zeltplätze zu. “Seit 700 Jahren”, sagt er wieder und lässt jede Silbe auf der Zunge zergehen.  Und erzählt mit leiser Stimme von spanischen Missionaren, von amerikanischen Goldsuchern und von der US-Kavallerie, die die benachbarten Navajos deportierte, aber sein Volk in Ruhe ließ. Später hätten landhungrige Rancher nach und nach ihre traditionellen Jagdgründe reduziert. Bis auf den Canyon. Als sie 1975 ihr Land auf dem Plateau nach langem Rechtsstreit zurückerhielten, hatten sie die Überlebensregel Nr. 1 längst verinnerlicht: Von den Weißen kommt nichts Gutes. Billy war noch ein kleiner Junge, aber er erinnert sich genau, als der Band Council das Angebot des Bureau of Indian Affairs diskutierte. “1975 schickten sie uns einen Agenten. Der bot uns eine Straße ins Dorf an. Damit auch wir endlich zivilisiert würden.” Billy grinst.  Die Ältesten lehnten dankend ab.

Havasu Canyon

Wie weise diese Entscheidung war, zeigt sich heute. Der 400 km entfernte Grand Canyon wird auf gleich zwei Zufahrtsstraßen von fünf Millionen Touristen jährlich überschwemmt. In den Havasu Canyon dagegen schaffen es weniger als 20 000 Touristen pro Jahr. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Supai gilt als einsamster Ort der Lower 48. Bis zum nächsten Supermarkt sind es 150 Kilometer. In den USA sind das Lichtjahre. Die einzigen Verkehrsmittel nach Supai sind Pferde und Maultiere. Und die eigenen Füße. Seelisch vorbereitet auf das Verlassen Amerikas wird man schon bei der Anfahrt: Auf der Indian Route 18, die hinter dem Kaff Seligman von der Rte. 66 abbiegt, sieht man auf hundert Kilometer keinen Menschen. Selbst das Autoradio gibt auf. In diesem Empfangsloch überlebte die Kultur der Havasupai. Fast alle sind noch der eigenen Sprache mächtig. Isoliert sind sie deswegen nicht. Die Verbindung mit der Außenwelt erfolgt per “mule train”. Die Maultier-Karawanen verkehren täglich zwischen Supai und dem 16 km entfernten Hualapai Hilltop oben an der Canyon-Kante. Dort lassen Hiker ihre Autos stehen. Supai ist der einzige Ort in den USA, wo die Post per Maultier zugestellt wird. Nur für Notfälle, die Alten – und fußmüde Wanderer – gibt es den Helikopter.

Dass die Straße Havasu das gleiche Schicksal beschert hätte wie dem Grand Canyon, steht außer Frage. Der Canyon, bis zu 500 Meter tief und an den schmalsten Stellen nur wenige Meter breit, beherbergt die schönsten Wasserfälle des Landes. Das grandiose Gefühl absoluter Isolation gibt es gratis dazu.  Der Pfad in dieses Shangri-La allerdings trennt die Spreu vom Weizen. Diejenigen jedoch, die die Aussicht auf einen 16-Kilometer-Hitze-Marsch durch Staub und loses Geröll nicht schreckt, wandern zunächst auf engen Serpentinen auf den Canyonboden und dann immer leicht bergab, hinein in eine immer enger werdende Schlucht, die bald den Himmel zu einem schmalen Streifen hoch über den Köpfen reduziert. Hin und wieder begegnen sie den Gastgebern. Die reiten schweigsam und mit unbewegten Gesichtern vorbei – und registrieren doch, sagt Billy später, jeden Gruß und jede Höflichkeit genau. Höflich-distanziert gestaltet sich der Umgang zwischen Rot und Weiß auch während der nächsten Tage. Die Havasupai sind rücksichtsvolle Leute. Sie wissen, dass ihre Gäste nicht gern mit Fragen nach sexuellen Ritualen und religiösen Vorstellungen belästigt werden.. Deshalb haben sie den Campingplatz drei Kilometer hinter ihrem Dorf angelegt. So wird verhindert, dass allzu neugierige Stammesbrüder und -schwestern ihre Köpfe in fremde Zelte stecken oder arglose Weiße ohne deren Zustimmung fotografieren. Das Rezept scheint aufzugehen: Die “Watchers” über dem von Felswänden eingekesselten Supai stehen noch immer. Erst wenn die beiden Felstürme umkippen, wird sich – laut Weissagung – der Canyon schließen und den gesamten Stamm verschlucken.

Havasu Canyon
Beim ersten Blick auf das Paradies hat man also 16 Kilometer in den Knochen. Der Tag neigt sich dem Ende zu, man hat genug. Doch wie der Havasu Creek in zwei Kaskaden 40 Meter tief in einen von sattgrüner Vegetation gerahmten, türkisfarbenen Pool stürzt, wie da unten ein paar halb nackte Hiker enthemmt in den kristallklaren Fluten planschen – das wirkt wie Viagra.  Die Beine verdoppeln die Schrittzahl, ohne dass das Gehirn den Befehl dazu erteilt hätte. Unten reißt man sich die verschwitzten Klamotten vom Leib, schmeißt sie achtlos irgendwo hin, und stolpert dem grünen Nass entgegen wie Afrikaforscher einst der Oase. Das Wasser schlägt über einem zusammen, und der Alltag daheim löst sich endgültig in Wohlgefallen auf. So mögen sich Adam und Eva gefühlt haben, bevor der Apfel dazu kam.

Der Campingplatz liegt in einem lichten Wäldchen. Das Trinkwasser stammt aus einer ummauerten Quelle, es gibt umweltfreundliche Kompost-Klos. Gerade 200 Meter breit ist der Canyon hier, seine roten Sandsteinwände ragen mehrere Hundert Meter empor. Das Plätschern des Havasu Creek ist immer und überall zu hören. Unangenehm voll wird es nie. Einmal hier, will man nicht mehr weg. Die für eine Handvoll Outfitter unten in Phoenix arbeitenden Guides können davon ein Lied singen. 120 Tage im Jahr sei er hier unten und kriege nicht genug, sagt Brian. Der braun gebrannte Athlet führt kleine Gruppen durch den Canyon und kennt jeden Stein, jede Formation, jede Geschichte. Wie die von Ed Abbey, dem Öko-Papst des Südwestens, der hier während der sechziger Jahre in einem Neben-Canyon fast verhungerte. Wie die von der Springflut, die 1997 den Canyon unter Wasser setzte, aber wundersamerweise niemanden tötete. Von seinen Havasupai-Kumpeln Castro und Käpt´n Crack, die den Canyon noch nie verlassen haben, und warum die Havasupai am liebsten Reggae hören. Einer Weissagung zufolge sollte nämlich der legendäre Häuptling Crazy Horse als schwarzer Mann zurückkehren. Und viele hier sind sicher, dass das nur Bob Marley sein kann. Und natürlich die Geschichte von James Mooney. Der Abenteurer kam 1882 hierher, um nach Edelmetallen zu suchen. Dabei versperrte ihm ein Wasserfall den Weg. Seine Kollegen ließen ihn daraufhin an einem Seil neben dem Fall hinunter. Auf halber Höhe klemmte dieses jedoch, und Mooney baumelte drei Tage lang hilflos in der Gischtwolke. Dann riss das Seil, und Mooney stürzte zu Tode. Erst zwei Jahre später konnten seine Mitstreiter die Leiche bergen – nachdem sie einen senkrechten Tunnel in den Fels neben den Fällen getrieben hatten.

Havasu Canyon

Heute sind die Mooney-Fälle für viele der Hauptgrund für den Trip. Über 70 Meter tief stürzt sich der Havasu Creek hier über die Kante. Noch immer ist der Tunnel der einzige Weg hinab. Wir steigen in ein enges Loch, klammern uns so gut es geht an glatt polierte Eisenketten und beten, dass alles gut gehen möge. Dann lassen wir uns in die Schwärze hinab, nach Kanten und Aushöhlungen für Finger und Schuhe tastend. Die letzten zehn Höhenmeter klettern wir auf einer geduldig im Sprühregen verschimmelnden Holzleiter herum. Dann stehen wir im Matsch. Noch höher, noch mehr Ehrfurcht gebietend türmt sich der Canyon hier über einem auf. Eine machtvolle, unvergessliche Szenerie. Auch hier gibt es hübsche Pools, in denen man baden kann. Knapp vier Kilometer flussabwärts liegt noch ein Wasserfall, Beaver Falls. Unterweg überqueren wir mehrere Male den Havasu Creek, zwängen uns durch enge Spalten und klettern an alten Seilen steile Wände empor. Allerdings, man kann die Tage hier unten auch einfach so verbringen und dabei nichts tun außer den Schmetterlingen nachzuschauen und den vielen Stimmen des blau-grünen Wassers zu lauschen. Die Zeit im Paradies vergeht ohnehin zu schnell.

Fotos: David Elms, Arizona Outback Adventures

 

Weitere Infos online unter:

Arizona Outback Aventures: www.aoa-adventures.com
Havasupai Tribe: www.havasupai-nsn.gov
Arizona Tourism: www.arizonaguide.com

Autor: Ole Helmhausen

Ole Helmhausen ist freiberuflicher Reisejournalist, Autor, Fotograf, Blogger und VJ und bereist seit 20 Jahren im Auftrag deutschsprachiger Zeitungen, Magazine und Verlage die USA und Kanada. Er lebt in Montréal (Kanada). Sie finden ihn auch auf: Facebook, Google+ und Twitter.

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