Mount St. Helens: Klettertour auf einer Zeitbombe

MSH-Johnston-RidgeDer Ausbruch des Mt. St. Helens vor 33 Jahren war einer der verheerendsten des 20. Jahrhunderts. Und der am besten erforschte. Durch ihn haben die Wissenschaftler viel über Vulkane gelernt. Seine Besteigung lehrt jedoch vor allem eines: Bescheidenheit.

Wer zur Kraterkante will, muss in Jack´s Country Store in Cougar sein ”Permit” abholen, die Lizenz zum Kraxeln (1). Nur 100 dürfen am Tag hinauf, das Ökosystem ist so kurz nach dem Höllentanz noch extrem empfindlich. War sie selbst schon mal oben? Die Kassiererin, ein grauhaariges Fräulein im blauen Kittel, verdreht die Augen und verneint dann entschieden. Sie weiß auch nicht, wie lang der Trail ist, in welchem Zustand er sich befindet und wie das Wetter ist über den Wolken. Muss sie auch nicht, findet sie. “Habe Besseres zu tun”, sagt sie und stempelt den Streifen für das Armaturenbrett ab. Und, leiser: “Der Berg soll bleiben, wo er ist.”

Blast-ZoneManches brennt sich so tief ins Gedächtnis, dass man es besser ruhen lässt. Für die Menschen zu Füßen des Vulkans gehört der 18. Mai 1980 dazu. An diesem Tag brach um 8.32 Uhr der Mt. St. Helens aus. Es war der schlimmste Vulkanausbruch  in der Geschichte der USA – und der bestdokumentierte überhaupt. 57 Menschen kamen ums Leben, trotz aller Warnungen und trotz der isolierten Lage des Mt. St. Helens in der Wildnis des Gifford Pinchot National Forest. So schlimm war die Katastrophe, dass sich Augenzeugen und Überlebende, traumatisiert wie Kriegsversehrte, bis heute in Support-Gruppen treffen. So stark war die Explosion, dass sie die oberen 400 Meter des vormals 2949 Meter hohen Vulkans wegsprengte und den größten Erdrutsch der Geschichte produzierte. Der St. Helens spie eine Magma und Gestein mitführende Druckwelle aus, die knapp unter Schallgeschwindigkeit und dicht über dem Boden nach Norden raste und noch 30 Kilometer später Bäume umrasierte. Insgesamt ebnete der von den Hiesigen sogenannte “Stone Wind” über 600 Quadratkilometer Wald ein. Schlammlawinen zerstörten 27 Brücken und 300 Kilometer Straße. Eine gigantische Aschewolke machte noch 100 Kilometer weiter östlich, auf der andern Seite der Cascade Range, den Tag zur Nacht. Der Tourismus, in Vermarktungsfragen sonst wenig zimperlich, verzichtet bis heute aufs Trittbrettfahren. “Have a Blast” wünscht zwar ein Schild am Highway 504 zu den Aussichtspunkten an der Nordseite, und der Schnellimbiss in Toutle, dem Hauptort des auf den Berg zulaufenden Toutle Valley, serviert “Blastburger” mit Fritten. Doch das war´s auch schon. Man hält sich zurück. Als ob zu viel Vulkan-Business den Berg wieder wach kitzeln könnte.

MSH-Stairmaster

Seit 1986, dem Jahr, als der Berg zum National Volcanic Monument geadelt wurde, darf er wieder bestiegen werden. Der Thrill, einen, soweit sind sich die Geologen einig, nur mit einem Auge schlafenden Vulkan zu besteigen, lockt seitdem Wanderer aus aller Welt herbei. Für manche ist der Trip ein spirituelles Erlebnis. Anderen geht es schlicht um die Aussicht auf die übrigen Cascades-Vulkane. “Ich war schon 50 Mal da oben”, sagt eine muntere Siebzigjährige aus Seattle. Sie pflegt, wie die meisten, unweit von Cougar auf dem Parkplatz Climbers Bivouac am Trailhead zu campieren. Denn der nächste Tag hat es in sich. Hin und zurück sind es 15 Kilometer. Eigentlich kein Thema, doch die zuletzt 45-prozentige Steigung ist es, sie kostet die meiste Zeit. Und Kraft. “Dieser Berg ist ein einziger Stairmaster”, sagt die Dame und checkt noch einmal ihren Wasservorrat. Sieben Liter führt sie mit, fünf für den Auf-, zwei für den Abstieg. Und Steigeisen, es ist Ende Juni, da sind Schneefelder zu überqueren. Warum tut sie sich das immer wieder an? “Wie heisst das auf Französisch?” Sie kratzt sie mit gespielter Ratlosigkeit am Kopf und grinst. “Ach ja, ich hab´s. Bin wohl´n Voyeur.”

Aufstieg1Doch vorerst wird ist nichts mit Gucken. Man sieht den Berg nicht, obgleich man genau davor steht. Man ahnt ihn nicht einmal. Gleich neben dem Parkplatz beginnt ein Wald, der einen verschluckt wie der Wal einst den Jonas. Vereinzelt dringen dünne Lichtspeere auf den Boden, ansonsten führt der Trail durch graugrünes Halbdunkel, in dem jeder Laut versickert. Siebeneinhalb Kilometer liegen vor einem, und 1425 Höhenmeter. Als sogenannter Stratovulkan hat der St. Helens einen steilen Kegel gebildet, doch eine ganze Weile ist davon nichts zu spüren. Im Gegenteil, die ersten dreieinhalb Kilometer sind überaus angenehm. Bäche plätschern, Eichhörnchen flitzen umher. Behutsam kriecht der Pfad bergan. Da der St. Helens damals seitlich nach Norden hin ausbrach,  ist – für das ungeschulte Auge zumindest – auf der Südseite nicht allzuviel von der Verwüstung zu sehen. Man fühlt sich wie eine Laus, die einem Elefanten über die Schulter sehen will. Pinien und Zedern überall, moosbedeckt, ein tolkiensches Ensemble. Doch die Romantik ist nur geliehen. Bald schlägt der Pfad die ersten Haken. Schwarze Brocken liegen im Weg. Der Wald wird lichter, immer öfter gibt er den Blick auf grauschwarze Geröllfelder frei, die in den Wolken verschwinden. Schluss mit romantisch. Jetzt spannt der Berg die Muskeln.

MSH-Aufstieg2Der Mt. St. Helens liegt 80 Kilometer nordöstlich von Portland (Oregon) im US-Bundesstaat Washington und ist einer von mehreren Vulkanen der bis Kalifornien reichenden Cascade Range. Wegen seiner hohen Ausbruchsequenz in den letzten 4000 Jahren galt er vor 1980 als der Gefährlichste – und wurde dennoch, der letzte Ausbruch war doch 123 Jahre her, als “Fujijama Amerikas” ein beliebtes Ausflugsziel, Hotels und Campingplätze zu seinen Füßen inklusive. Am 20. März 1980 jedoch meldete er sich mit einem Beben der Stärke 4 auf der Richterskala zurück. Während der nächsten Wochen stieg die Erdbebensequenz dramatisch. Am 25. März wurde auf dem Gipfel ein breiter Riß entdeckt, zwei Tage später ließ eine noch in Portland zu hörende Explosion einen neuen, 60 m breiten Krater zurück, der fortan kontinuierlich wuchs.

Aufstieg-3Mehrere Hundert Menschen wurden noch am gleichen Tag evakuiert. Am 30. März zählten die Geologen des US Geological Survey 93 Explosionen – und über dem Vulkan 70 Flugzeuge, mit Schaulustigen, Journalisten und Kamerateams an Bord. Soldaten der Nationalgarde riegelten das Krisengebiet ab. Doch der Mt. St. Helens, zitternd, spuckend und wummernd, begnügte sich vorerst mit Drohgebärden. Holzfirmen schickten ihre evakuierten Angestellten wieder zur Arbeit unterhalb des Berges. Vulkan-Touristen und Presse-Leute umgingen die Straßensperren und kletterten jenseits der Baumgrenze herum, in der Hoffnung auf einen Logenplatz am Tag X. Gegen ihren Willen evakuierte Grundbesitzer forderten ultimativ  Zugang zu Haus und Hof. Mitte April entdeckten Geologen an der Nordseite eine hundert Meter hohe, anderthalb Kilometer lange und zweieinhalb Kilometer breite Schwellung. Zuletzt wuchs diese “Beule” anderthalb Meter pro Tag, Hinweis auf einen bevorstehenden seitlichen Ausbruch. Doch weil der US Geological Survey weder den Zeitpunkt noch die Wucht der Eruption exakt voraus zu sagen vermochte, lehnten sich viele beruhigt zurück. Unsichere Experten, ungläubige Anwohner, verantwortungslose Schaulustige: Die Weichen zum Drama des 18. Mai waren gestellt.

Aufstieg4Vier Kilometer noch zum 1000 Meter höher liegenden, von Vorsprüngen verdeckten Krater. Vor einem: eine kleine Senke und Spuren im Schnee, sie laufen durch ein lichtes Wäldchen auf die Monitor Ridge zu, eine etwa 40 Meter hohe Geröllhalde. Zwischen Lavabrocken gerammte Holzlatten markieren den schnurgerade die Halde hinaufkletternden Trail. Es wird ernst. Schon bei 1650 Metern verdient der Pfad nicht mehr den Namen. Er hat sich aufgelöst, man hievt sich, einen eigenen Weg suchend, von Block zu Block, springt, hüpft, klettert, mit den Händen Halt suchend. Schweiß fließt in Strömen, der Atem, auch der Höhe wegen, geht immer schneller. Je mehr Wasser man trinkt, desto schneller leert sich die Flasche – eine banale Erkenntnis, deren Konsequenz einem angesichts der noch zu bewältigenden Höhe schmerzhaft bewußt wird. Das daheim freudig ersehnte Gefühl, Gestein unter die Stiefel zu bekommen, das jünger ist als man selbst, verliert seine Poesie: Die Monitor Ridge ist eine Strapaze. Kurz nach dem Ausbruch bepflanzten Geologen sie mit Laser-Messgeräten, um rechtzeitig instabile Partien am Hang zu entdecken, daher der Name. Jetzt trennt sie die Spreu vom Weizen: Man überholt andere Kletterer, wird überholt, einmal sogar von widerlich rüstigen Senioren, das tut weh.

Die ersten  Kletterer kommen bereits wieder herunter, auf dem Hosenboden die Schneezungen beiderseits der Monitor Ridge talwärts rutschend. Man wechselt vom Grat hinunter auf den Schnee, setzt die Stiefel in die von Vorgängern ausgetretenen Stufen. Das geht leichter, doch dafür bekommt man es mit der Sonne zu tun, deren Strahlen vom Schnee zum Gesicht umgeleitet werden. Zurück also auf den Grat – zu spät, wie sich abends herausstellt, als das Gesicht glüht wie flüssige Lava. Bei etwa 2100 Metern gehen die scharfkantigen Lavabrocken in, einen Schritt vor, zwei zurück, lose Asche und Bimssteingeröll über. 400 Höhenmeter noch, da oben, ist dies das Ziel, die horizontale Linie, auf der der Himmel zu sitzen scheint? Ein paar Punkte gehen darauf hin und her, ein paar sitzen auf ihr und lassen die Beine baumeln.

Kraterrand1Die letzten Meter sind die härtesten. Kraft und Wille reichen zehn schleppende Schritt weit, dann schreit der Körper Pause. Kurz vor dem Gipfel schiebt sich der  Kraterring ins Bild, ein gigantisches U von 3,2 Kilometer Süd-Nord- und 1,6 Kilometer Ost- Westerstreckung. Dann, endlich, steht man, mit zitternden Knien, aber unsagbar zufrieden, auf der nur wenige Schritte breiten Kraterkante. Der Blick, er stürzt 600 Meter tief in eine trostlose Welt aus Asche und Geröll, aus der noch immer Dämpfe aufsteigen. Die gegenüberliegende Nordseite der Caldera existiert nicht mehr: Wie durch ein gigantisches Tor blickt man hinab auf die Mondlandschaft des oberen Toutle Valley und hinüber zum 12 Kilometer entfernten Spirit Lake. Am Horizont: Mt. Rainier, 80 km entfernt. Ihn beobachten die Geologen seit der Eruption des Mt. St. Helens besonders scharf. Denn auf der anderen Seite liegt, nur einen Steinwurf entfernt, die Millionenstadt Seattle. Die alte Dame vom Parkplatz, sie ist schon länger hier oben, bereitet sich auf den Abstieg vor. Sie hat sich sattgesehen. “Man fühlt sich wie auf einem leer geblasenen Ei, right? Unheimlich, nicht? ”

Kraterrand2Ja. Und nein. Erwiesenermaßen erkennt der Mensch eine Gefahr als solche nicht, wenn er sie nur sieht.  Gottseidank, mag man sagen, sonst stünde man sicher nicht hier oben. Auch vor 25 Jahren war das so. Ein paar Tage vor dem Ausbruch hörten die Explosionen plötzlich auf. Zwar bebte der Berg weiter, wuchs die “Beule” immer schneller, doch zu hören war absolut nichts. Am 17.  Mai ließ die Regierung, dem Druck der um ihre Anwesen besorgten Haus- und Hotelbesitzer nachgebend, eine 50 Autos starke Wagenkolonne in die Sicherheitszone direkt unterhalb des Vulkans. Mehrere Hundert Holzfäller hatten in dieser Woche hier gearbeitet. Eine weitere Kolonne war für den 18. Mai geplant. Doch daraus wurde nichts. Um 8. 32 Uhr, an einem friedlichen, sonnigen Morgen, brachte ein Beben der Stärke 5,1 die zuletzt mehrere Tausend Quadratmeter große Beule an der Nordseite zum Einsturz. Die oberen 400 Meter des Bergs kollabierten, die gesamte Bergspitze, insgesamt 3 Kubikkilometer, geriet in Bewegung und raste mit 240 km/h als größter je beobachteter Erdrutsch in das obere Toutle Valley. Zehn Kilometer weiter nördlich beobachtete der USGS-Geologe David Johnston von einer 380 Meter hohen Anhöhe aus das Spektakel. “Vancouver, Vancouver, this is it..” waren die letzten Worte, die er seiner Zentrale funkt, dann überrannte die Lawine seinen Posten. Danach, bzw. davor, denn sie überholte die Lawine, kam die noch tödlichere Druckwelle, dann die die gigantische Aschewolke erzeugende vertikale Eruption, kamen die pyroklastischen Ströme, bis zu 700 Grad heiße Lawinen aus Lavablöcken, Gasen und Asche, die ihrerseits die Gletscher schmolzen und riesige Schlammlawinen erzeugten.

Kraterrand4Auf dem Gipfel weht ein leichter Wind. Insekten krabbeln im Schnee herum: Mutter Natur hat nicht aufgegeben. Unten im Toutle Valley ist sie schon weiter, man erkennt grünes Buschwerk und junge Bäume. Auf der nach Johnston benannten Anhöhe steht heute ein modernes Besucherzentrum. Ferngläser blitzen kurz auf. Damals starben 57 Menschen, die meisten beim Einatmen der heißen Asche. Und meist außerhalb der abgesperrten Sicherheitszone. Rund um die Uhr beobachtet, fotografiert, gefilmt und vermessen, hatte sich der St. Helens dennoch nicht einplanen lassen. Wie vermessen, ihn voraussagen zu wollen.. Zeit zum Einpacken. Im Süden schimmern Mt. Adams und Mt. Hood bereits im warmen Nachmittagslicht. Der Berg rückt die Verhältnisse zurecht. Man lernt Bescheidenheit. Übrigens war der Mt. St. Helens damals noch gnädig. Er brach nämlich an einem Sonntag aus. Wäre er nur einen Tag später ausgebrochen, hätte er 90 Prozent der Holzfäller-Frauen im Toutle Valley zu Witwen gemacht.

(1) Permit für die Besteigung: Die Genehmigung ist inzwischen nur noch online erhältlich und sollte so früh wie möglich hier (http://mshinstitute.org/index.php/climbing/index) getätigt werden.

Weitere Infos gibt es online unter:

Mount St. Helens National Volcanic Monument: http://www.fs.usda.gov/mountsthelens

Übernachtung: Lone Fir Resort, www.lonefirresort.com

 

Autor: Ole Helmhausen

Ole Helmhausen ist freiberuflicher Reisejournalist, Autor, Fotograf, Blogger und VJ und bereist seit 20 Jahren im Auftrag deutschsprachiger Zeitungen, Magazine und Verlage die USA und Kanada. Er lebt in Montréal (Kanada). Sie finden ihn auch auf: Facebook, Google+ und Twitter.

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